Titelseite > Neuigkeiten

Germanistikstudentin Liu Yutong gewinnt Ersten Preis in der Kategorie Kurzgeschichten des Deutschwettbewerbs 2022

Updated:25.06.2022

Der von den Botschaften Deutschlands, Österreichs und der Schweiz veranstaltete Deutschwettbewerb des Jahres 2022 ist erfolgreich zu Ende gegangen. Teilnehmer des Wettbewerbs waren fast 700 junge Deutschlernende aus ganz China, die Kurzgeschichten oder Comics zu dem Thema „Freundschaft“ einreichten. Zum besten Wettbewerbsbeitrag wählte die Jury die Kurzgeschichte „Anna und das Vöglein“ von Liu Yutong, Studentin des Jahrgangs 2021 im Bachelorstudiengang Germanistik an der BFSU. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit den soliden Sprachkenntnissen und der reichen Fantasie, die Liu Yutong mit ihrer Kurzgeschichte unter Beweis stellte.

Dankesworte von Liu Yutong:

Aus Anlass des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland veranstalteten die Botschaften Deutschlands, Österreichs und der Schweiz in China einen Deutschwettbewerb, der unter dem Thema „Freundschaft“ stand. Die Geschichte von Anna und dem Vöglein spiegelt meine eigenen Erfahrungen zu diesem Thema und mein Verständnis von Freundschaft wider. Ich habe in meinem bisherigen Leben viele Freunde gefunden, und sie alle haben mir viel geholfen. Zum Erwachsenwerden gehört, dass man danach strebt, sich zu entfalten und seinen eigenen Weg zu finden. Aber Abschied bedeutet nicht das Ende von Freundschaft. Wie es am Ende der Geschichte heißt: „Freunde begleiten uns nicht das ganze Leben, aber die Zeit mit ihnen hinterlässt immer schöne Spuren. Jedesmal wenn wir uns daran erinnern, fällt uns die ruhige verträumte Vergangenheit ein.“ Wir alle können die Protagonistin dieser Geschichte, Anna, sein, und wir alle können so einen kleinen Vogel besitzen, der nur uns allein gehört. An meiner Geschichte und meiner Weise zu schreiben gibt es sicher viel zu verbessern, aber ich hoffe, sie hat Ihnen gefallen, und danke Ihnen fürs Lesen.

Die mit dem Preis ausgezeichnete Geschichte:

Anna und das Vöglein

Liu Yutong

Anna ist ein fünfjähriges Mädchen. Sie ist mit ihren Großeltern auf einem abgelegenen Dorf aufgewachsen, wo keine jungen Leute, sondern nur Senioren leben. Von klein auf sagt ihre Oma, dass ihre Eltern in einer fernen Großstadt arbeiten und deswegen nicht oft zu Anna kommen können, aber sie trotzdem lieben und die Familie sehr vermissen.

Anna hat keine Freunde. Die Bücher und Puppen, die ihre Eltern ihr geschenkt haben und sie ihre ganze Kindheit begleitet haben, waren ihre besten Freunde. „Jetzt will ich aber jemanden, der mit mir sprechen und mir zuhören kann.“ So denkt Anna.

Kurz darauf hat Opa ihren Wunsch erfüllt. Eines Tages hat er ein verletztes Vöglein im Feld gerettet und es nach Hause gebracht. Anna verbindet seine Wunde mit blauen Bändern und macht ihm ein kleines Bettchen. Als das Vöglein endlich wach wird, fragt Anna direkt:

„Ich bin Anna. Willst du mein Freund sein?“

„Ja, gerne!“ antwortet das Vöglein.

Also werden sie Freunde.

In den nächsten Tagen verbringen sie immer zusammen Zeit. Da das Vöglein noch nicht genesen ist, legt Anna es in einen Korb und sie besichtigen das ganze Dorf. Auf dem Weg erzählt Anna dem Vöglein, wie ihr vorheriges Leben war und beklagt, wie gelangweilt und einsam sie sich fühlte.

„Und du, kleines Vöglein. Mit den kräftigen Flügeln bist du bestimmt durch die ganze Welt geflogen. Erzähl mir davon. Wie sieht das Leben dort draußen aus?“

„Hohe Wolkenkratzer, komplizierte Verkehrsverbindungen, hastige Leute. Und der Himmel in der Stadt ist nicht so blau wie hier. “

„Aber trotzdem stürmen viele in die Stadt. Dort gibt es bestimmt etwas Attraktives.“ Die bildschönen Bergketten, das gelbe Kornfeld, der herrliche Sonnenuntergang… Anna sitzt am Rand des Feldes und sieht das vertraute Bild des Dorfes vor sich. Sie sagt entschlossen: „Eines Tages will ich die Stadt selbst entdecken.“

Kurz danach wird Anna sechs und soll in die Schule gehen. Die Schule befindet sich in einem anderen Dorf und der Weg dahin kostet viel Zeit. Jeden Tag wenn sich die Sonne noch hinter dem Berg verbirgt, muss sie schon aufbrechen, und sie ist erst zu Hause, wenn der Mond aufgeht. Aber sie ist nie allein, denn das Vöglein bleibt immer bei ihr.

Am Anfang ist Anna traurig, weil es ihr schwer fällt, sich als Neuankömmling mit Anderen anzufreunden. Sie kann dem Unterricht nicht gut folgen und muss ihn zu Hause bis tief in die Nacht nachholen.

Glücklicherweise ist das Vöglein immer für sie da. Ein schönes Lied singend fliegt es um sie herum, dadurch wird sie wieder froh. Morgens auf dem Schulweg erzählt das Vöglein Anna, welche Neuigkeiten es in der Stadt gibt. Abends erzählt Anna dem Vöglein, was Interessantes in der Schule passiert ist und bringt ihm ein paar Süßigkeiten. So läuft es Tag für Tag. Anna gewöhnt sich immer besser an das neue Leben.

An ihrem siebten Geburtstag bekommt Anna von ihren Eltern eine neue Schultasche und einen Brief. In dem Brief steht geschrieben: Liebe Anna, wir haben sehr viel gearbeitet und können uns schließlich dein Schulgeld in einer städtischen Schule leisten, damit du eine bessere Bildung bekommst. Komm bitte zu uns. Die Bahnkarte ist dem Brief beigefügt. Bis bald.

Als Anna den Brief liest, fühlt sie sich teils aufgeregt, teils traurig. Sie kann endlich in ihre Traumstadt fahren und mit ihren Eltern sein, das bedeutet aber auch, dass sie sich vom Dorfleben — den Großeltern, den Lehrern, den Mitschülern, dem gelben Kornfeld, den bildschönen Bergketten, dem herrlichen Sonnenuntergang… verabschieden muss.

„Vöglein, findest du auch, dass ich das Dorf verlassen soll?“

„Das ist seit langem dein Wunsch, Anna. Bis jetzt kennst du die Stadt nur durch meine Erzählung, jetzt sollst du sie selbst entdecken. Mach dir keine Sorgen, da ist eine größere Bühne für dich, sie gefällt dir bestimmt.“

Bald kommt Anna in der Stadt an. Die hohen Wolkenkratzer, die schnelle U-Bahn, die modernen elektronischen Geräte… Alles ist ihr eine ganz neue Welt und spricht sie an. Die Aufregung des Neuen überdeckt die Angst vor der Fremdheit. In kurzer Zeit hat sie sich gut eingelebt.

„Vöglein, du hattest Recht. Das Leben hier liebe ich sehr.“ sagt Anna auf dem Weg nach Hause. Obwohl sie in die Stadt gezogen ist, bleiben sie noch zusammen wie früher.

„Du bist anpassungsfähig und intelligent, Anna. Wie geht es in der Schule? Hast du schon ein paar Freunde?“

„Naja, vielleicht. Maria ist meine Sitznachbarin. Sie ist gut in Mathe, sieht aber ein bisschen streberhaft aus. Thomas sitzt hinter mir. Er ist humorvoll und erzählt uns oft Witze. Fiona hat Kulleraugen und kann sehr gut tanzen… Sie sind alle nett und haben mir viel geholfen.“ antwortet Anna. „Aber trotzdem bist du immer meine beste Freundin.“ Dann springt sie singend nach vorne.

Das Vöglein sieht ihre fröhliche Gestalt und hat sich zu etwas entschlossen.

Am nächsten Tag taucht es nicht auf. Verwirrt geht Anna mit Freunden nach Hause. Als sie ihr Zimmer betritt, sieht sie ein paar Blumen am Fenster. Es ist ein Strauß Vergissmeinnicht — die Blumen haben Anna und das Vöglein auf der Reise ins Dorf einmal gesehen. Die Vergissmeinnicht werden von den vertrauten blauen Bändern gebündelt. Anna erinnert sich an ihre Begegnung, die bildschönen Bergketten, das gelbe Kornfeld, den herrlichen Sonnenuntergang…

„Vöglein, du fliegst in den Himmel zurück, wo du eigentlich hingehörst. Ich werde dich nicht vergessen.“ Anna schaut in den Himmel und lächelt.

Das Vöglein zeigt sich nie mehr. Anna geht allein zur Schule und nach Hause. Manchmal auch mit Mitschülern. Trotzdem fühlt sie sich nicht mehr einsam, denn sie weiß, dass ihre beste Freundin sie immer vom Himmel aus ansehen und beschützen wird.

So ist die Freundschaft. In jedem Lebensabschnitt begegnen wir am Anfang neuen Menschen und manche von ihnen werden unsere Freunde. Wir teilen miteinander Freude und Trauer, erzählen einander von Kummer und Träumen. Das Zusammensein mit ihnen ist so schön, dass wir vergessen, wie schnell die Zeit vergeht. Am Ende sagen wir Aufwiedersehen.

Freunde begleiten uns nicht das ganze Leben, aber die Zeit mit ihnen hinterlässt immer schöne Spuren. Jedesmal wenn wir uns daran erinnern, fällt uns die ruhige verträumte Vergangenheit ein.